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Agilität und Diversität

Inhaltsverzeichnis

Die deutsche Gesellschaft und damit auch der deutsche Arbeitsmarkt sind in den letzten Jahrzehnten immer vielfältiger geworden. So ist beispielsweise der Anteil von Migrant:innen und ihrer Kinder an der Gesamtbevölkerung in den vergangenen 20 Jahren deutlich gestiegen; mehr Menschen als je zuvor gehen offen mit ihrer sexuellen Orientierung – auch am Arbeitsplatz – um, und der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung hat ebenfalls deutlich zugenommen. Mit diesem sozio-demographischen Wandel geht notwendigerweise auch eine Veränderung des Bewusstsein einher. Die Wachsende soziale Vielfalt ist von einer gesellschaftlichen Bürde, die mit vielen Ängsten und großer Unsicherheit verbunden war, zu einer aufregenden und vielversprechenden Chance, nicht zuletzt für die deutsche Wirtschaft, geworden. 

Diversity im agilen Umfeld

Die Agile Community stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Auch sie erkennt in der wachsenden Diversität eine wichtige und hoffnungsvolle Produktivkraft. Dabei wird die – berechtigte bzw. naheliegende – Annahme vertreten, dass sich das innovative und kreative Potential der Diversität (der Erfahrungen, des Wissens, der Fähigkeiten usw.) besonders gut in agilen Kontexten und Frameworks entfalten kann. Dieser begrüßenswerte Konsens ist unter anderem in den geteilten Werten von Respekt und Offenheit sowie dem agilen Grundansatz “Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge” angelegt. 

Dennoch sollte uns diese Einigkeit und Euphorie zumindest etwas stutzig machen. Gehört es doch zu unser alltäglichen Erfahrung, dass es zu jeder beliebigen Diskussion innerhalb der Agilen Community ungefähr so viele verschiedene Standpunkte wie Scrum Master:innen und Agile Coaches, die an ihr beteiligt sind, gibt. Dieser Umstand ist vor allem dadurch zu erklären, dass sich der agile Diversity Diskurs – seltsamerweise – kaum mit der Frage auseinandersetzt, wie man diese besondere Produktivkraft entfaltet. Die Mehrheit der Blog-Einträge vermittelt ein über-simplifiziertes Bild von diversen Teams bzw. von der Arbeit mit diversen Teams. Demnach müsse eigentlich nur die Personalabteilung für eine vielfältigere Belegschaft sorgen (Stichwort: Diversity Management), den Rest erledigt dann die Agile Arbeitsweise der Wahl quasi von selbst. Doch so einfach ist es leider nicht. “Making Diversity Work for All” (OECD) ist harte Arbeit.

Es steht außer Frage, dass Agile Methoden wie Scrum besser ausgestaltet sind, um mit heterogenen Teams zu arbeiten bzw. das große Potential von heterogenen Teams besser zu nutzen. Natürlich gibt es auch in einem Scrum Team, das ausschließlich aus weißen Männern um die 30 besteht, unterschiedliche Ansichten und Positionen. Auch hier treffen diverse persönliche und professionelle Erfahrungen aufeinander, die zu produktiven und gleichzeitig auch destruktiven Konflikten führen können. Doch je größer und zahlreicher die individuellen Differenzen der Teammitglieder desto aufwendiger (Quantität) und komplizierter (Qualität) ist der richtige Umgang mit ihnen. Das wichtigste Mittel zur Lösung dieser Problemlage ist die Arbeit an den gemeinsamen Werten und Regeln. 

Diversität entfaltet kreatives Potential

Die größte Herausforderung besteht im (täglichen) Abbau von latenten Vorurteilsstrukturen und dem konsequenten Unterbinden von offen artikulierten Stereotypen. Nur so kann ein sicheres Klima geschaffen werden, in dem die diversen Teammitglieder ihre Unterschiede (Erfahrungen, Kompetenzen, Ansichten usw.) ohne Angst artikulieren können. Erst auf dieser (psychologischen) Grundlage kann sich das innovative und kreative Potential der Diversität überhaupt erst entfalten. Die Etablierung dieses Zustandes wird daher – notwendiger Weise – zu einer der zentralen Aufgabe von Agile Coach oder Scrum Master:in. 

Die Zukunft im Arbeitsalltag

Wie schwierig die Lösung dieser Aufgabe ist, lässt eine Umfrage von SThree (2017) erahnen.  Eine repräsentative Befragung von über 1.000 Festangestellten und Freelancer:innen hatte ergeben, dass 38% der Teilnehmer:innen grundsätzlich nicht in einem vielfältigen Team arbeiten wollen (Dieses Ergebnis ist nun nicht sonderlich überraschend oder verwunderlich. Zahlreiche Langzeitstudien wie die Reihe “Deutsche Zustände” (2002-2011) oder die “Mitte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung” (2006-2019) belegen, dass Vorurteile und Ressentiments tief in der Mitte der deutschen Gesellschaft verankert sind). Zeitgleich wird die deutsche Gesellschaft im Zuge des demographischen Wandels und der kontinuierlichen voranschreitenden Globalisierung zunehmend vielfältiger. Der Vorsitzende der Bundesagentur für Arbeit hat die Bundesregierung erst kürzlich darauf hingewiesen, dass die deutsche Wirtschaft für ein stabiles und kontinuierliches Wachstum jährlich auf die Zuwanderung von ca. 400000 Fachkräfte angewiesen ist. Daher werden diverse Unternehmen und diverse Teams bald die (neue) Normalität darstellen.

Mit der Arbeit in diversen Unternehmen werden sich auch die 38% – auf kurz oder lang – anfreunden müssen. Damit dieser Prozess für alle Beteiligten möglichst schmerz- und angstfrei von statten gehen kann, bedarf es emotionaler Arbeit und viel Geduld. Denn tiefsitzende Vorurteilsstrukturen, die wir alle im Laufe unserer Sozialisation – manche mehr, manche weniger – internalisiert haben, verschwinden nicht einfach so über Nacht. Auch gute konzipierte Diversity-Trainings oder diversitysensible Codes of Conduct reichen alleine nicht aus. Sie sind schlicht und einfach viel zu weit entfernt – zeitlich wie räumlich – von den alltäglichen Problemen und Konflikten, um adäquat auf diese reagieren zu können.

Die Stärke von Agile Coach und Scrum Master:in

Gerade in der sozialen und emotionalen Nähe des Agile Coaches oder der Scrum Master:in zu ihrem Team besteht die primäre Stärke der agilen Facilitation von Diversity gegenüber klassischen Ansätzen des Diversity Managements. Probleme und Konflikte können mit ihrer Hilfe unmittelbar in den Situationen vermittelt oder zumindest identifiziert werden, in denen sie aufkommen. In den konkreten Interaktionen entwickeln die beteiligten Individuen Awareness über die spezifischen Anforderungen der Diversität und Empathie für die vielfältigen Bedürfnisse ihrer Teammitgliedern. Diese sozialen und emotionalen Skills bilden die Voraussetzung für eine iterative Verbesserung der Diversity-Kompetenzen des gesamten Teams (Diversity-Kompetenz beschreibt die Fähigkeit eines Individuums oder einer Gruppe mit menschlicher Vielfalt angstfrei, konstruktiv und zielorientiert umgehen zu können).  Es ist die Aufgabe des agilen Fachpersonals seine Kolleg:innen in diesem psychisch durchaus anspruchsvollen Prozess nach Kräften zu unterstützen, sei es in dem sie mit gutem Beispiel vorangehen oder durch ganz individuelle Coaching-Einheiten.

Auf Teamebene muss die agile Spezialist:in, wie bereits erwähnt, auf die Etablierung einer sicheren Arbeitsatmosphäre hinarbeiten. Da sich gerade zu Beginn eines Projekts bzw. zu Beginn des Teambuildings Verletzungen und Kränkungen nicht gänzlich vermeiden lassen, bedarf es eines spezifischen und sensiblen Umgangs mit derartigen Zwischenfällen. Voraussetzung für deren produktive Lösung ist das Commitment zu einer einfachen Teamregel: Jede Artikulation von Ressentiments oder Stereotypen muss zunächst als ein einfaches Versehen betrachtet werden. Es ist Aufgabe des gesamten Teams, auf den problematischen Inhalt der Äußerung freundlich aber bestimmt hinzuweisen. Es liegt jedoch in der Händen der Verursacher:in in Zukunft dafür zu sorgen, dass sich derartige Fehltritte aus Unwissenheit oder Empathielosigkeit nicht wiederholen. Halten sich alle Teammitglieder an diese Vorgehensweise, ist davon auszugehen, dass derartige Verletzungen und Kränkungen kontinuierlich abnehmen. Auf dieser Grundlage sind diverse Teams zunächst so leistungsfähig wie andere, weniger diverse Teams.

Aktive Unterstützung von Kreativität und Innovation 

Um die besonderen Produktivkräfte der Vielfalt zu entfalten, bedarf es jedoch mehr als nur einer erfolgreichen Lösungsstrategie für Konflikte. Die Kreativität und Innovativität der Diversität muss aktiv zu Tage gefördert werden, da diese im Alltag häufig durch einen kollektiven Zwang zur Konformität oder dem individuellen Bedürfnis nach Konformität verdeckt werden. Die heterogenen Erfahrungen, Wahrnehmungsweisen (kulturell, geschlechtlich, generational usw.) sowie Wissensformen (auch kulturell, geschlechtlich, generational usw. geprägt) werden daher nur selten artikuliert und damit auch nur selten Teil der kollektiven Fähigkeiten des Teams. Bei der Förderung dieser unbewussten und ungenutzten Potentiale kommt dem Agile Coach oder der Scrum Master:in ein wichtige Rolle zu. Um das Unbekannte zu entdecken, muss sie oder er – so seltsam es sich vielleicht auch anhören mag – zunächste alle Gewissheiten hinterfragen. Überträgt man dieses Satz jedoch in die Praxis, so wird schnell klar, dass es sich hierbei nicht um einen esoterischen Lehrsatz, sondern um eine Methode empirischer Sozialforschung handelt.


Die Diversity-Kategorie des Geschlechts soll diesen Sachverhalt exemplarisch illustrieren.

Statt also das Verhalten von Kolleg:innen – unter anderem bzw. nur – durch ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Geschlechtsgruppe (männlich, weiblich, divers usw.) zu erklären, wie es auch gender-sensible Menschen  aufgrund unbewusster Wahrnehmungsstrukturen notwendigerweise tun müssen, um sich im Alltag orientieren zu können, müssen agile Spezialist:innen die geschlechtliche Interaktionsordnung in ihrem Team und das Geschlechterverhältnis in ihrer Organisation kritisch hinterfragen. Liegt es, beispielsweise, wirklich an den Frauen, dass ihr Redeanteil in Diskussionen im Durchschnitt geringer und ihre Perspektiven häufig weniger in die Entscheidungs- bzw. Arbeitsprozesse eingehen? Oder begünstigt die vorherrschende Diskussionskultur männliches Redeverhalten (z.B. dominanter Einsatz der Stimme, Illegitimität von Gefühlsargumenten, Solidarität entlang der Geschlechtergrenzen statt entlang von inhaltlichen Argumenten usw.) und damit die Positionen männlich sozialisierte Redner? Durch die sensible und kontinuierliche Artikulation dieser Fragen, unterstützt ein Agile Coach oder eine Scrum Master:in ihr Team darin, ungekannte Differenzen und ungekannte Gemeinsamkeiten bewusst wahrzunehmen.

Erst wenn die unbekannten und häufig gar unbewussten Differenzen in der Wahrnehmung, des Wissens, der Erfahrungen der Teammitglieder ohne Angst vor Verletzung oder Bloßstellung in den alltäglichen Interaktionen erfragt und artikuliert werden können, kann die Vielfalt als Produktivkraft der Innovation und der Kreativität im Team wirken.

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